Interview Adrian Honegger: «Mit Wetten testen wir Geschäftshypothesen»

Mittwoch 21.11.2018 Christian Walter
Christian Walter

Christian Walter ist Geschäftsführer und Redaktionsleiter von swiss made software. Bis Ende 2010 arbeitete er als Fachjournalist für das ICT-Magazin Netzwoche, publizierte zuletzt aber auch im Swiss IT Magazin, der Computerworld sowie inside-it.

Open Innovation und agil heisst die Devise bei Baloise. So entstehen im Jahr etwa zwölf neue Produkte, die dann beim Kunden am Markt getestet werden.

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Adrian Honegger

hat 1999 in den USA in Kernphysik doktoriert. Anschliessend folgten europäische Wanderjahre in Medizinphysik und Biotechnologie in Industrie und Akademie, immer mit dem Fokus auf Digitalisierung. 2009 stiess er zur Baloise und ist seit Herbst 2009 Co-Leiter der Informatik Schweiz. Er ist verheiratet und Vater von vier Kindern. Adrian Honegger hat gemeinsam mit Pascal Bonny die IT Schweiz in den letzten sechs Jahren entlang agiler Prinzipien weiterentwickelt. Seit Ende 2016 leitet er die neue Abteilung Group Strategy und Digital Transformation, die sich mit dem Industrie 4.0 Impakt auf die Versicherungsindustrie beschäftigt und Veränderungen in Technologie­, Innovations- und Kulturthemen vorantreibt und unterstützt.

Christian Walter:: Die Baloise hat bei der Software einen hohen Eigenentwicklungsgrad. Ist dies strategisch oder historisch bedingt?

Adrian Honegger:: Das ist historisch bedingt. Unsere Kernsysteme konnte man früher nicht ab Stange kaufen, deshalb haben wir sie selber entwickelt und immer hinzugebaut. Es ist ein bisschen wie ein Autokauf, eigentlich schwebt dir ein Tesla vor, dann tut es vorerst auch ein Fiat und irgendwann wird daraus ein VW. Und selbst wenn wir jetzt nur noch zukaufen würden, müssen wir die vorhandenen Systeme weiter pflegen und weiterentwickeln.

Das heisst, die internen Entwickler schrauben an den Altsystemen, während das neue von extern kommt?

Nein. Auch intern haben wir unsere Innovationsfähigkeit weiterentwickelt. Schon vor acht Jahren haben wir komplett auf Scrum und Kanban umgestellt. Alle unsere 160 EntwicklerInnen verteilen sich auf zwei Dutzend Scrum-Teams, die in enger Zusammenarbeit mit dem Business vertikal neue Anwendungen aufsetzen. Die Scrum-Teams arbeiten also interdisziplinär und agil an Innovationen, und dies sehr erfolgreich.

Die Baloise befindet sich seit ein paar Jahren auf Einkaufstour und steckt viel Geld in Start-ups. Warum ist das trotz agiler interner Struktur dennoch nötig?

Wir kaufen nicht einfach ein. Im Rahmen unserer Strategie «Simply Safe» arbeiten wir daran, den Grundstein für die Baloise der Zukunft zu legen. Neben der kontinuierlichen Weiterentwicklung unseres Kerngeschäfts beobachten wir die Entwicklung des Marktes, der Kundenbedürfnisse und der Technologien sehr genau. Dazu gehört auch, dass wir uns Hunderte Start-ups pro Jahr genauer ansehen. Dies unterstützt uns dabei, Geschäftshypothesen aufzustellen, die wir dann möglichst schnell und billig verifizieren können – in Form von sogenannten Wetten.

Indem Sie sich an Start-ups beteiligen?

Nein. Wir machen mit Start-ups zusammen Projekte, die wir finanzieren. So entstehen im Jahr etwa zwölf Produkte, die wir in sechs bis zwölf Wochen entwickeln und beim Kunden am Markt testen. Bewährt sich das Produkt nicht am Markt, wird es nach einem Jahr abgestellt. Funktioniert es, ergibt sich eine Partnerschaft. Somit sind sowohl die Eintrittshürden als auch die Austrittshürden tief. Letztes Jahr etwa haben wir den Innovationspreis der Assekuranz gewonnen. Dies unter anderem dank einer Mobile-Anwendung, mit der Sie zum Beispiel Ihre Uhr fotografieren können. Das Modell wird automatisch erkannt und Sie erhalten die passende Versicherung mit einigen Optionen angeboten. Dafür haben wir zwei interessante Start-ups mit unterschiedlichen Technologien zusammengebracht, die sich vorher nicht kannten. Zu dritt haben wir anschliessend in kürzester Zeit die Lösung gebaut.

Sie suchen also eher Partner als Beteiligungen?

Ja, denn obwohl wir auch investieren, ist uns eine Partnerschaft lieber. Die Unternehmen sollen nämlich möglichst eigenständig bleiben, sonst verlieren sie ihre Innovationskraft. Steht aber zum Beispiel eine neue Finanzierungsrunde an, sind wir durchaus auch bereit, Geld in die Hand zu nehmen. Dies wäre dann nach dem Monitoring und dem Experimentieren die dritte Säule. Dazwischen gibt es natürlich auch Hybridmöglichkeiten; jeder Fall ist wieder etwas anders.

Bei einem solchen Ansatz gehört scheitern dazu – das muss für ein gestandenes Unternehmen wie die Baloise ein Kulturschock sein?

Selbst wenn ein Experiment schief geht, lernen wir immer dazu – dies ist das Zentrale. So können wir früh erkennen, wozu eine bestimmte Technologie taugt oder eben nicht. Letztes Jahr haben wir im Zusammenhang von Datentransfers bei der beruflichen Altersvorsorge ein «Minimum Viable Product» (MVP) auf der Ethereum Blockchain gebaut. Dabei mussten wir feststellen, dass dies pro Transaktion immer noch zu teuer kommt. Aus diesem Grund wurde das Projekt in Folge wieder gestoppt.

Wie kommt das denn intern an, wenn sich Start-ups innovativ austoben dürfen, während intern die Devise «Keep the Lights On» lautet?

Intern funktioniert das ähnlich. Wir haben ein dezidiertes «Bets» Team; also ein Team, das sich um die internen Wetten kümmert. Ausserdem betreiben wir eine Open Innovation Plattform, über die jeder der 7500 Mitarbeitenden Vorschläge einreichen kann. Stösst die Idee auf Interesse, gehen wir genau gleich vor wie bei Ideen von externen Start-ups. Dabei kann es auch zu Spin-offs kommen. Mit unserer jüngsten Initiative gehen wir noch einen Schritt weiter. Dabei geht es nicht nur um «buy» oder «make», sondern auch um «share». So sind wir daran, eine Open Source Plattform zu schaffen, auf der Microservices gelistet sind, die von der Community weiterentwickelt werden können.

Die Versicherungsbranche hat sich bislang wenig innovativ gezeigt. Insurtech scheint hierzulande weitgehend ein Schlagwort und wenig Realität. Ist die Baloise-Strategie eine Flucht nach vorn?

Meiner Meinung nach gibt es keine Schweizer Insurtech-Szene. Global tut sich schon eher etwas, aber nicht zu vergleichen mit Fintech. Wir verfolgen unseren Ansatz jetzt etwa seit drei Jahren und gehören damit zu den Leadern in der Branche. Ein Vorteil ist unsere relativ kleine Größe, die mehr Flexibilität erlaubt. Wir haben uns inzwischen einen gewissen Namen gemacht. Dass Start-ups aus Kalifornien anklopfen, um hier in Basel mit uns zu arbeiten, sagt schon einiges aus. Es hat sich herumgesprochen, dass man mit uns schnell und unkompliziert Projekte umsetzen kann.

Die Versicherungsbranche ist bislang von der Disruption verschont geblieben – warum ist das so, und wird sich das ändern?

Wir operieren in einem stark regulierten Bereich. Wenn die Werkstatt geschützt ist, gibt es wenig Anreiz, etwas Neues zu machen. Im Vereinigen Königreich gibt es beispielsweise eine Sandbox für neue Ideen – die Finma hat so etwas vor zwei Jahren für die Fintechs geschaffen. Wir wollen jetzt eine entsprechende Variante für die Versicherungsbranche – doch dies wird von einigen unserer Mitbewerber gar nicht unterstützt.

Haben Sie es denn nicht gern warm und trocken?

Doch, schon. Aber jetzt drängen Player wie Amazon auf den Versicherungsmarkt. Uns betrifft das noch nicht. Ein Haus oder Auto kaufen Sie nicht bei Jeff Bezos. Aber es zeigt, wo es langgeht. Wenn wir uns nicht mit den neuen Möglichkeiten auseinandersetzen, wird uns die globale Konkurrenz in ein paar Jahren fressen und wir verpassen eine Chance. Unsere Werkstatt muss sich ändern. Die relevanten Fragen in Zukunft lauten: Was will der Kunde versichern, kann er das mit drei Klicks tun und haben wir dazu je drei Varianten im Angebot?

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